Cover
Titel
Zugriffe auf das Ich. Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz, 1945 bis 1980


Autor(en)
Tornay, Magaly
Reihe
Historische Wissensforschung 4
Erschienen
Tübingen 2016: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Beat Bächi, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Magaly Tornays nun in der Reihe Historische Wissenschaftsforschung bei Mohr Siebeck erschienene Dissertation setzt mit einer ironischen Pointe ein: 1957 war Schizophrenie als Hauptthema für den an der ETH Zürich stattfindenden zweiten Internationalen Kongress für Psychiatrie gewählt worden. Doch dann musste die gesamte Organisation des Kongresses nochmals überdacht werden, weil die psychoaktiven Stoffe «aufgetaucht» waren. Dass diese Stoffe keineswegs plötzlich wie aus dem Nichts das Licht der Welt erblickt hatten, macht Tornays Studie, die bereits in den 1940er Jahren einsetzt, deutlich. Ihr Auftauchen war zudem mit der Vorstellung verknüpft, Medikamente hätten eine spezifische Wirkung. Dies führte dazu, dass auch psychische Krankheiten vermehrt über konkrete Symptome gefasst wurden. Das heisst, wenn etwa ein Antidepressivum bei einem nicht eindeutigen Krankheitsbild wirkte, konnte dies zu einem entscheidenden Argument für die Diagnose Depression werden. Die beiden instabilen Grössen Stoffwirkung und Krankheitsdefinition stabilisierten sich in diesem diagnostischen Zirkel gegenseitig. Diese «Ko-Produktion» (S. 9) von Pharmakon und Person steht im Zentrum von Tornays Buch, das in historischer Perspektive reflektiert, wie die Genese der Psychopharmaka Personenkonzepte, Krankheitsbilder, den Umgang mit PatientInnen sowie unser Sprechen über uns selbst und unser Inneres transformierte.

Als analytische Kategorie wählt Tornay nicht Subjektivierung, sondern den Begriff des Personenkonzepts. Personenkonzepte werden als Orte begriffen, an denen die Vektoren Individuation und Teilnahme innerhalb eines sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Feldes aufeinander treffen. Dieser Pharmakon-Person-Nexus könne, so Tornay, empirisch am ehesten «in the making» (S. 5) untersucht werden. Dadurch kommen vornehmlich drei Felder in den Blick: erstens Experimente mit psychoaktiven Stoffen, wo Subjektives zu objektivieren versucht und das Verhältnis von Innerem und Äusserem verhandelt wurde, zweitens die sich verfestigende Wissensordnung im klinischen und wissenschaftlichen Kontext und drittens die Ausweitung der therapeutischen Sphäre durch Standardisierungsbewegungen und neue Konsumformen.

Tornays Studie ist entsprechend in drei Teile und sechs Kapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel untersucht Experimentalanordnungen mit LSD in der Psychiatrie und beginnt somit wesentlich früher als die meisten historischen Arbeiten zu psychotropen Stoffen. Im zweiten Kapitel werden neue Thesen und Untersuchungen zur Entstehung von Schizophrenie behandelt. Die enorme Wirksamkeit von LSD bei fast schon immateriellen Dosen legitimierte Anfang der 1950er Jahre eine Sichtweise, welche psychische Krankheiten als im Körper lokalisierbar annahm (im Gegensatz zur Suche nach biographischen und sozialen Faktoren). Mit LSD und ab 1953 mit Chlorpromazin etablierte sich eine stabile Anordnung, die versprach, Psychosen ins Labor zu bringen und experimentell zu entschlüsseln, womit die Idee einer chemisch modulierbaren Psyche Auftrieb bekam. Diese materiellen Assemblagen hätten jedoch keineswegs von Beginn weg zur Durchsetzung eines biologischen Paradigmas (im Sinne eines «neurochemischen Selbst») geführt, sondern es sei zunächst zu einer Überlagerung von psychodynamischen und biologischen Erklärungsmustern gekommen. Die beiden Kapitel des zweiten Teils («Wissensordnungen») untersuchen die Aushandlung von Bedeutungen psychoaktiver Stoffe. Dabei steht im dritten Kapitel der zweite Internationale Kongress für Psychiatrie von 1957 in Zürich im Zentrum, wo um Benennungen und Klassifikationen von Stoffen gerungen wurde. Im vierten Kapitel führt Tornay detailliert vor, wie auf einer lokalen Ebene Wissen über psychoaktive Stoffe stabilisiert wurde. Das fünfte Kapitel zu Beginn des dritten Teils beschreibt eine statistische Wende, die mit der Ausarbeitung von Standards für klinische Tests und für Krankheiten einsetzte. Das sechste Kapitel fokussiert die Wende um 1968, als verschiedene psychoaktive Stoffe zu sozialen und politischen Bedeutungsträgern wurden. Zudem kam es zu einer «Kontamination der Theorie durch die Quellen und umgekehrt» (S. 217), was bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen Quellen und Literatur beziehungsweise theoretischen Grundlagen zunehmend schwierig wurde.

Der Studie liegt eine breite und zuweilen heterogene Quellenbasis zugrunde. Zentral sind Materialien aus dem Firmenarchiv von Novartis, Unterlagen aus der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, medizinische und psychiatrische Fachzeitschriften sowie die Konferenzbände des zweiten Internationalen Kongresses für Psychiatrie. Der Fokus liegt somit auf Quellen aus der Schweiz, punktuell wurden jedoch auch europäische und amerikanische Publikationen ausgewertet, da das Feld der psychoaktiven Stoffe von Beginn an global und lokal zugleich war.

Am meisten beeindruckt hat den Rezensenten das vierte Kapitel, in welchem ein Bogen von der Entdeckung des ersten Antidepressivums Imipramin in einer kleinen Landklinik zur sogenannten «Epidemie der Depression» geschlagen wird. Diese Mikrostudie zum Geigy-Mittel G 22355 zeigt eindrücklich auf, wie sich die Tablette, also die kleine Dosis, erst allmählich als alltagstaugliche und resozialisierungsfördernde Abgabeform und damit ein neues Modell der kleinen, aber stetigen Intervention durchsetzte. Die Leserinnen und Leser werden dabei nicht nur mitgenommen zum klinikinternen Maskenball, wo «la gentille dame Largactil » und «la méchante dame Geigy» aufeinandertrafen (S. 140), sondern erfahren auch, wie sich das Berufsbild der Psychiatriepflege durch die Einführung moderner Psychopharmaka wandelte.

Obwohl – oder gerade weil – immer alles in der Schwebe ist, führt Tornay souverän durch die komplexe Geschichte der Zugriffe auf das Ich. Da insbesondere die Mikrostudie zu Imipramin, wo die Fragilität der Stoffe und die Brüchigkeit der Personenkonzepte besonders spürbar ist, zu begeistern weiss, wäre zu wünschen gewesen, dass die Identität der Stoffe selbst zuweilen noch stärker problematisiert und die Fragen der Dosierung noch weiter thematisiert worden wären. Ebenso wäre es bedenkenswert gewesen, im Kapitel zur statistischen Wende auch den Übergang von Selbst- zu Fremdexperimenten mit zu reflektieren. Nichtsdestotrotz sei Tornays ausgezeichnete Studie hiermit allen LeserInnen, die sich für das soziale Leben von Psychopharmaka interessieren, wärmstens zur Lektüre empfohlen

Zitierweise:
Beat Bächi: Rezension zu: Magaly Tornay, Zugriffe auf das Ich. Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz, 1945 bis 1980, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 504-506.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 504-506.

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